Warum heilen gerissene Sehnen so langsam?

Wissenschaft, Risiken und die menschliche Seite der Genesung

Wer schon einmal eine Sehne gerissen hat – sei es durch Sport, einen Unfall oder einfach durch das Leben – weiß, wie langwierig und frustrierend der Heilungsprozess sein kann. Ich selbst stecke gerade mittendrin: Nach einem Fahrradunfall habe ich mir die Schulter verletzt und erlebe hautnah, wie langsam, unsicher und manchmal auch beängstigend die Genesung verläuft. Schauen wir uns an, warum Sehnen so langsam heilen, welche Risiken es gibt (inklusive OP), und was in unserem Inneren passiert, wenn wir mit einer Verletzung leben lernen müssen.

Warum dauert die Heilung von Sehnen so lange?

Sehnen sind die festen, faserigen Strukturen, die Muskeln mit Knochen verbinden. Ihre dichte Struktur macht sie extrem stark, aber auch berüchtigt dafür, nur langsam zu heilen.

Geringe Durchblutung: Sehnen sind deutlich schlechter durchblutet als Muskeln, daher gelangen Heilungszellen und Nährstoffe nur langsam an die verletzte Stelle (Kjaer et al., 2009).

Komplexe Kollagenstruktur: Die Reparatur und Neuordnung der festen Kollagenfasern braucht Zeit – oft Monate, manchmal länger (Jarvinen et al., 2002).

Ständige Belastung: Jede Bewegung setzt die Sehne unter Zug. Schon kleine Alltagsbewegungen können die frühe Heilung stören, zu viel Schonung führt dagegen zu Steifigkeit und Narbenbildung (Magnusson et al., 2010; Schleip et al., 2010).

Der Heilungsprozess

Die Sehnenheilung läuft in drei überlappenden Phasen ab:

1. Entzündung: Der Körper räumt beschädigtes Gewebe ab (einige Tage bis eine Woche) (Hyman & Rodeo, 2000).

2. Proliferation: Neues Kollagen wird gebildet – anfangs noch schwach und ungeordnet (mehrere Wochen) (Kjaer et al., 2009).

3. Remodellierung: Das neue Kollagen richtet sich aus und wird stärker, was Monate bis Jahre dauern kann (Hyman & Rodeo, 2000).

Das echte Risiko: Wiederverletzung und Riss

Gerade bei meiner eigenen Schulter spüre ich: Nach einer Verletzung ist die Sehne besonders anfällig.

Weitere Schäden: Wer zu früh zu viel macht oder sich falsch bewegt, riskiert einen erneuten Riss – im schlimmsten Fall reißt die Sehne komplett vom Knochen ab (Hyman & Rodeo, 2000).

Operation oft notwendig: Ein kompletter Abriss muss fast immer operativ wieder am Knochen befestigt werden, gefolgt von einem langen Reha-Prozess (AAOS, 2024).

Beispiel Schulter

Die Schulter ist ein klassischer Problembereich. Nach Stürzen oder Unfällen sind Sehnen wie die Rotatorenmanschette gefährdet. Jeder stechende Schmerz oder „Warnhinweis“ des Körpers ist berechtigt: Er signalisiert, dass das Gewebe geschützt werden muss (Magnusson et al., 2010).

Was, wenn die Sehne komplett reißt? OP, Erfolgsraten und Rehabilitation

Wann ist eine OP notwendig?

Wenn eine Sehne komplett abreißt, ist meist eine Operation nötig, um sie wieder am Knochen zu befestigen. Das ist bei schweren Schulterverletzungen (z.B. Rotatorenmanschette, Bizepssehne) häufig der Fall (AAOS, 2024).

Wie erfolgreich ist die Operation?

Schulter (Rotatorenmanschette):

  • Rund 80–90 % der operierten Patient:innen berichten über deutliche Schmerzlinderung und verbesserte Funktion (DeOrio & Cofield, 1984; Galatz et al., 2004).

  • Die meisten gewinnen die Schulterfunktion weitgehend zurück, volle Kraft und Beweglichkeit dauern aber 6–12 Monate Reha (AAOS, 2024).

  • Das Risiko eines erneuten Risses nach OP liegt bei 10–30 %, besonders bei älteren Menschen oder großen Rissen (Galatz et al., 2004).

Andere Sehnen (z.B. Bizeps, Achillessehne):

Auch hier sind die Erfolgsraten für Schmerzlinderung und Funktion sehr hoch – meist 80–95 % (AAOS, 2024).

Die meisten kehren zu Alltag und, mit Engagement in der Reha, sogar zum Sport zurück (AAOS, 2024).

Was erwartet mich in der Reha?

  • Die Physiotherapie beginnt sanft, zunächst zum Schutz der Naht, später zur schrittweisen Wiederherstellung von Beweglichkeit und Kraft (AAOS, 2024).

  • Die Genesung ist ein Marathon, kein Sprint – meist dauert es mindestens 6 Monate, manchmal bis zu einem Jahr, bis sich alles wieder „normal“ anfühlt (AAOS, 2024).

  • Dranbleiben und Geduld zahlen sich aus (AAOS, 2024).

Leben mit der Sorge: Die Psychologie der Verletzung

Seit meinem Unfall bin ich bei jeder Bewegung besonders aufmerksam – vor allem bei allem, was einen stechenden Schmerz auslöst. Die Angst, es schlimmer zu machen oder sogar eine OP zu brauchen, ist immer präsent.

Was passiert in unserem Kopf?

Wachsamkeit: Nach einer Verletzung überwachen wir unseren Körper ständig auf Warnsignale. Schmerz wird zum Alarmsystem, manchmal werden wir dadurch übervorsichtig (Engel, 1977).

Angst und Sorgen: Die Furcht vor einer erneuten Verletzung oder OP kann überwältigend sein. Oft kreisen die Gedanken endlos um „Was wäre, wenn...?“ (Lugg, 2022).

Identität und Akzeptanz: Verletzungen können unser Selbstbild erschüttern, besonders wenn wir aktiv sind oder auf unseren Körper angewiesen sind. Neue (auch nur vorübergehende) Einschränkungen zu akzeptieren, kann sich wie ein Verlust anfühlen (Lugg, 2022).

Das biopsychosoziale Modell: Heilung ist nicht nur Biologie. Gedanken, Gefühle und soziale Unterstützung beeinflussen, wie wir Schmerz erleben und wie gut wir genesen. Angst, Stress und Unsicherheit können Schmerzen verstärken und die Heilung verlangsamen (Engel, 1977; Lugg, 2022).

Wie gehen wir damit um?

Auf den Schmerz hören: Stechender Schmerz ist das Stoppsignal des Körpers – ein eingebauter Schutzmechanismus, um weitere Schäden zu verhindern (Magnusson et al., 2010).

Selbstmitgefühl: Es ist okay, sich Sorgen zu machen oder frustriert zu sein. Diese Gefühle anzuerkennen, ist Teil des Heilungsprozesses (Lugg, 2022).

Unterstützung suchen: Gespräche mit Fachleuten, Freunden oder anderen Betroffenen helfen, das Emotionale zu verarbeiten (Lugg, 2022).

Sanfte, angeleitete Bewegung: Bewegung ist wichtig – aber nur im schmerzfreien Bereich. Zu viel kann die Heilung zurückwerfen, zu wenig führt zu Steifigkeit und Verklebungen (Schleip et al., 2010).

Zusammengefasst:

  • Sehnen heilen langsam wegen geringer Durchblutung, dichter Struktur und ständiger Belastung (Kjaer et al., 2009; Jarvinen et al., 2002).

  • Nach einer Verletzung besteht ein echtes Risiko für erneute Risse – besonders in beweglichen Gelenken wie der Schulter (Magnusson et al., 2010).

  • Die OP zur Wiederbefestigung ist sehr erfolgreich, vor allem mit konsequenter Reha – aber Geduld ist gefragt (AAOS, 2024; Galatz et al., 2004).

  • Heilung ist nicht nur körperlich – Angst, Sorgen und Erwartungen sind ein wichtiger Teil des Prozesses (Engel, 1977; Lugg, 2022).

  • Wer mit einer Sehnenverletzung oder einer OP konfrontiert ist, ist nicht allein. Unterstützung, Geduld und Selbstmitgefühl sind genauso wichtig wie jede Behandlung (Lugg, 2022).

Wer mit einer Sehnenverletzung zu kämpfen hat – besonders an komplexen Gelenken wie der Schulter – ist nicht allein. Bei Fragen oder dem Wunsch nach Unterstützung (körperlich oder emotional) während der Genesung, einfach melden oder einen Termin buchen.


Weiterlesen:

Blog Post: Wundheilung entschlüsseln


Quellen

- American Academy of Orthopaedic Surgeons (AAOS). (2024). [Rotator Cuff Repair](https://orthoinfo.aaos.org/en/treatment/rotator-cuff-repair/) & [Achilles Tendon Repair](https://orthoinfo.aaos.org/en/treatment/achilles-tendon-repair-surgery/)

- DeOrio, J.K., & Cofield, R.H. (1984). Results of a Second Attempt at Surgical Repair of a Failed Initial Rotator-Cuff Repair. _The Journal of Bone and Joint Surgery_, 66(4), 563-567.

- Engel, G. (1977). The Need for a New Medical Model: A Challenge for Biomedicine. _Science, 196_(4286), 129–136.

- Galatz, L.M., et al. (2004). The outcome and repair integrity of completely arthroscopically repaired large and massive rotator cuff tears. _J Bone Joint Surg Am_, 86(2), 219-224.

- Hyman, J., & Rodeo, S.A. (2000). Injury and repair of tendons and ligaments. _Physical Medicine and Rehabilitation Clinics of North America, 11_, 267–288.

- Jarvinen, T.A. et al. (2002). Organization and distribution of intramuscular connective tissue in normal and immobilized skeletal muscles. _Journal of Muscle Research and Cell Motility, 23_, 245–254.

- Kjaer, M., et al. (2009). From mechanical loading to collagen synthesis, structural changes and function in human tendon. _Scandinavian Journal of Medicine & Science in Sports, 19_, 500–510.

- Lugg, A. (2022). Chronic pain and the biopsychosocial model. _Structure, Function, Integration_.

- Magnusson, S.P., Langberg, H., Kjaer, M. (2010). The pathogenesis of tendinopathy: balancing the response to loading. _Nature Reviews Rheumatology, 6_, 262–268.

- Schleip, R., Zorn, A., Klingler, W. (2010). Biomechanical Properties of Fascial Tissues and Their Role as Pain Generators. _Journal of Musculoskeletal Pain, 18(4)_, 393–395.


Fachliche Qualifikationen

• Alle erwähnten Markenzeichen verbleiben im Eigentum ihrer jeweiligen Inhaber

Fachliche Standards Alle medizinischen und wissenschaftlichen Aussagen basieren auf aktueller Forschung und professioneller Erfahrung. Als Heilpraktiker in Ausbildung arbeite ich nach den strengen Richtlinien des deutschen Heilpraktikergesetzes.


Über den Autor:

Tobias Elliott-Walter ist zertifizierter Rolfer® (European Rolfing® Association, München) und ScarWork™-Praktiker für integrative Narbenarbeit. Seine Expertise basiert auf praktischer Erfahrung und kontinuierlicher Weiterbildung in der Faszienarbeit. Als praktizierender Therapeut in Saarbrücken verbindet er wissenschaftliche Erkenntnisse mit praktischer Anwendung.

Seine Qualifikationen umfassen:

• Zertifizierter Rolfer® (European Rolfing® Association, München)

• ScarWork™-Praktiker für integrative Narbenarbeit

• Zertifizierter Sivananda Yogalehrer (Bahamas Ashram, 2018)

• Heilpraktiker in Ausbildung

Sein ganzheitlicher Ansatz basiert auf der Überzeugung, dass körperliches und mentales Wohlbefinden untrennbar miteinander verbunden sind. Durch seine internationale Berufserfahrung bietet er Behandlungen sowohl auf Deutsch als auch auf Englisch an.


Wichtiger Hinweis:

Dieser Artikel dient ausschließlich Informationszwecken und ersetzt keine medizinische Beratung. Die hier geteilten Informationen basieren auf aktueller wissenschaftlicher Forschung und praktischer Erfahrung. Bei gesundheitlichen Beschwerden wenden Sie sich bitte an Ihren Arzt oder Therapeuten.

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